Mittwoch, 21. August 2013

Wort der Woche (2): Leider geil

Autos, Hibbeln, Strom, Versacken, Hackfleisch, Flatscreen auf Pump, Sneakers aus Kinderarbeit – alle diese Laster des frühen 21. Jahrhunderts sind „leider geil“, behauptet die Hamburger Hip-Hop-Gruppe »Deichkind«. Damit prägte sie 2012 mit ihrem gleichnamigen Lied das Doppelwort, das das Zeug hat, zum geflügelten Wort, zur Redensart zu werden. Inzwischen prangt es schon auf Werbeplakaten für eine Kölner Biermarke.
Schlagertext-Bonmots haben das auch früher schon gelegentlich geschafft: etwa »Gute Nacht, Freunde«; »Die kleine Kneipe«; »Nur nicht aus Liebe weinen« oder »Die Männer sind alle Verbrecher«. Gibt es Rezepte für solche Erfolge? Ja, durchaus: das sind die klassischen rhetorischen Mittel, die Redefiguren der antiken Rhetorik. »Leider geil« scheint zwar schnoddriger Jugendsprache entsprungen, nutzt aber gleich zwei dieser Klassiker: das Oxymoron und die Assonanz – auch wenn Cicero und seine humanistischen Verehrer sich im Grabe herumdrehen mögen.


Immer noch geil: die klassische Rhetorik


Ein Oxýmoron (wörtlich griechisch: »das Scharfdumme«) ist die Kombination zweier Begriffe, die eigentlich überhaupt nicht zusammenpassen und deshalb eine innere Spannung erzeugen. Hier sind das zwei entgegengesetzte Emotionswörter, das Negativ-Adverb „leider“ und das pubertäre Allround-Positivum „geil“. Leider geil? Sowas kann’s eigentlich gar nicht geben, und doch gibt es das alles, wovon »Deichkind« spricht: lauter Versuchungen mit oftmals unangenehmen Folgen. Dazu kommt die Assonanz: der Gleichklang der beiden „ei“ in „leider“ und „geil“, der es erleichtert, den Ausdruck nachzusprechen und sich zu merken. Die gleiche Assonanz finden wir auch im Beispiel „kleine Kneipe“. Andere Beispiele für Oxymora sind die Romantitel „Fürsorgliche Belagerung“ (Heinrich Böll) oder „Liebe in den Zeiten der Cholera“ (Gabriel García Márquez) oder der auf eine indianische Sage zurückgehende Name „Regenbogenkrieger (Rainbow Warrior)“.


Das dritte Erfolgs-Element ist der Umstand, dass die Formulierung so nahe lag und dennoch neu ist. Sie besteht aus zwei absolut geläufigen Wörtern der Umgangssprache, und auch ihr Sinn, das Phänomen der verhängnisvollen Versuchung, ist seit biblischen Zeiten bekannt. Schon der Apfel von Eden roch leider geil. Jeder Texter, Journalist und Schriftsteller fragt sich also, wieso er nicht selber auf diesen Begriff gekommen ist. (Ich auch.) Der Begriff ist universell anwendbar und kann in kürzester Frist zum Ohrwurm werden.


Doch um die Vielfalt der Widersprüche zu vollenden, tritt noch ein viertes Element auf den Plan: Der Ausdruck ist sonderbar zeitgemäß und konnte deshalb mutmaßlich erst in der jetzigen Zeit reüssieren. (Er mag früher schon irgendwo zufällig aufgetreten sein, blieb damals aber unbeachtet.) Zeitgemäß durch die Allgegenwart des pubertären Epithetons „geil“, und noch zeitgemäßer oder gar avantgardistisch durch den beginnenden Überdruss, die beginnende Abwendung vom Geilen. Erst sie machte es möglich, etwas leider geil zu finden, also die eigene Geilheit zu bedauern. Vielleicht sind die Kinder des geilen Zeitalters auch bloß etwas in die Jahre gekommen.


P.S.: Die Aussagen des Liedes kommentiere ich hier nicht.

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Jens Jürgen Korff