Dienstag, 27. September 2011

Lebendige Tiere und Pflanzen schützt man besser mit lebendigen Texten

Wer Texte zu Themen des Naturschutzes liest, beispielsweise Stellungnahmen von Naturschützern zu aktuellen Bauprojekten, stößt sehr häufig auf Sätze wie diesen:

Im Vorfeld des Bauantrages hatte der Antragsteller Unterlagen zur Prüfung der Notwendigkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung für die Verlegung des namenlosen Strothbachnebengewässers eingereicht.
Im Bereich des Naturschutzes - und schon ist mir ein typischer Ausdruck jener Sprache entschlüpft, um die es hier gehen soll – grassiert ein grauenhaftes Kanzleideutsch, in all seiner jahrhundertelang eingeübten Starrheit, Staubigkeit und ächzenden Schwerfälligkeit.  Warum ist das schlimm? 

Solche Stellungnahmen richten sich ja nicht ans Publikum, sondern meist an Verwaltungsbeamte oder Politiker, die vielleicht selbst Beamte sind. Und da sie einen juristischen Charakter haben, müssen sie nach juristischen Kriterien exakt sein.
Es ist deshalb schlimm, weil solche Texte ihre Leser schlecht behandeln, und weil man von misshandelten Menschen nicht erwarten sollte, dass sie Knoblauchkröten und Bechstein-Fledermäuse besser behandeln, als sie sich selbst fühlen.
Es ist deshalb schlimm, weil sich Entscheidungsträger der Quälerei mit solchen Texten dadurch entziehen, dass sie sie möglichst nicht lesen. Das aber bewirkt, dass die entscheidenden Argumente der Naturschützer gar nicht erst gelesen werden.
Es ist deshalb schlimm, weil auch solche Texte gelegentlich an die Öffentlichkeit geraten.

Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, seine Aussagen lebendig und menschenfreundlich zu formulieren und dabei doch juristisch exakt zu bleiben. Schauen wir uns an, wie das im konkreten Beispiel aussehen könnte!

Um die schlimmsten Ausprägungen des Kanzleideutschen und die wichtigsten Gegenmittel zu identifizieren, habe ich ein einfaches Punkteschema entwickelt. Pluspunkte gibt es für jeden ganzen Hauptsatz oder Nebensatz mit Subjekt, Prädikat und Satzzeichen am Ende; für jedes Verb im Aktiv; für jedes ? ! „ ; : – (Gedankenstrich im Satz). Minuspunkte gibt es für jedes Wort auf -ung, -heit, -keit oder  ion; für jedes Doppelsubstantiv und für jeden Genitiv. Über die Gründe für diese Kriterien erfahren Sie weiter unten etwas.

Zählen wir zunächst einmal durch, wie unser Horrorsatz abschneidet!
1 Pluspunkt für den ganzen Satz
1 Pluspunkt für ein Verb im Aktiv: hatte … eingereicht
5 Minuspunkte für Wörter auf –ung und –keit
4 Minuspunkte für Doppelsubstantive: Bauantrag, Antragsteller, Umweltverträglichkeitsprüfung, Strothbachnebengewässer
4 Minuspunkte für Genitive: »des Bauantrages«, »der Notwendigkeit«, »einer U.-prüfung«, »des namenlosen St.«
Macht unterm Strich: –11 Punkte!

Lebendiges Deutsch besteht in der Regel aus ganzen Sätzen nach dem Prinzip: ein Gedanke pro Satz. Ganze Sätze sind leichter verständlich als Substantivhäufungen, weil sie klar benennen, wer etwas tut und was er tut. Optimal sind unverschachtelte Hauptsätze. Doch auch Nebensätze und Teilsätze sind verständlicher und klangvoller als Genitivkonstruktionen oder Partizipien. Doppelsubstantive und Genitive bekommen Minuspunkte, weil sie den Satz in die Länge ziehen, seine Logik verschachteln und das Auftreten von Verben hinauszögern.

Der amerikanische Stilist William Zinsser hat einmal drastisch gesagt: »Der Unterschied zwischen Aktiv und Passiv ist der Unterschied zwischen Leben und Tod.« Ein Verb im Aktiv zwingt den Autor dazu, Ross und Reiter zu nennen. Wir erfahren, wer etwas tut und was er tut. Das ist lebendig.

Es ist eine modische Unsitte, alle Sätze mit einem Punkt abzuschließen. Die Satzzeichen ? ! „“ ; : – haben einen Sinn: Sie dienen dazu, die Sprechmelodie und die Pausen eines lebhaft sprechenden Menschen nachzuahmen. Wenn wir diese Zeichen lesen, haben wir die Chance, die Stimme des Autors im Gehirn zu hören. Die Zeichen ; : – haben noch einen weiteren Sinn: Sie lenken die Aufmerksamkeit der Leserin auf einen folgenden Gedanken. Sie zeigen: Da kommt noch etwas. Dafür gibt es Pluspunkte.

Wie könnten wir den Katastrophensatz retten?
Das Vorgehen besteht darin, zunächst die Kerngedanken des Satzes zu identifizieren. Faustregel: Gehen Sie von hinten nach vorne vor. Es sind drei:
1.    Ein namenloser Bach muss verlegt werden.
2.    Ist dafür eine Umweltverträglichkeitsprüfung notwendig?
3.    Um das zu klären, hat der Antragsteller Unterlagen eingereicht.

Also machen wir auch drei Sätze daraus. Etwa so:
Das Bauprojekt macht es nötig, einen namenlosen Nebenbach des Strothbaches zu verlegen. Die Frage war: Ist dafür eine Umweltverträglichkeitsprüfung notwendig? Um das zu klären, hat der Antragsteller schon im Vorfeld Unterlagen eingereicht.
Schauen wir uns das Punktekonto dieser drei Sätze an:
3 Pluspunkte für die drei Sätze
6 Pluspunkte für Verben im Aktiv: macht, zu verlegen, war, ist … notwendig, klären, hat … eingereicht
2 Pluspunkte für : und ?
2 Minuspunkte für Wörter auf -keit und -ung (in dem unvermeidlichen Fachterminus »Umweltverträglichkeitsprüfung«)
3 Minuspunkte für Doppelsubstantive: Bauprojekt, Umweltverträglichkeitsprüfung, Antragsteller
Macht unterm Strich: +6 Punkte!

Ein Unterschied von 17 Punkten! 17 Punkte Lesefreundlichkeit, die darüber entscheiden, ob die Leser dem Autor durch diese bürokratische Vorgeschichte folgen, um dann zum eigentlichen Kern zu kommen: den Specht- und Fledermausbäumen im Strothbachwald, die gerettet werden sollen.
Und jetzt meine Frage an alle Juristen: Ist der neue Vorschlag in irgendeinem Punkt gegenüber dem alten juristisch unpräzise oder angreifbar? Mag sein beim »Vorfeld«. Vielleicht müssen wir hier noch »des Bauantrages« ergänzen. Das gäbe 2 Minuspunkte (1 Genitiv, 1 Doppelsubstantiv), reduzierte also unseren Vorsprung von 17 auf 15 Punkte. Damit könnte ich leben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Vielen Dank für Ihren Kommentar! Ich schalte ihn in Kürze frei, wenn er zum Thema des Artikels passt.
Mit freundlichen Grüßen
Jens Jürgen Korff